Der gerettete König der Alpen
Die Schweiz ist das Land mit dem höchsten Bestand an Steinböcken und -geissen. Bild: Olivier Stähli

Der gerettete König der Alpen

3. Juli 2017 – Mit Olivier Stähli sprach Franziska Richard

Seit Jahrhunderten gilt der Steinbock als König der Alpen: erhaben, friedlich, freiheitsliebend und ganz schön fotogen. Das findet auch der 18-jährige Olivier Stähli aus Steffisburg, der als Hobbyfotograf und Tierbeobachter ein leidenschaftlicher Freund von Steinböcken ist.

Olivier Stähli, wie leicht oder schwierig ist es, eine Gruppe von Steinböcken zu fotografieren?
Eher leicht. Die Krux liegt aber darin zu wissen, wo sie überhaupt sind. Je offener das Gelände, desto besser. Das Niederhorn (oberhalb von Beatenberg am Thunersee – Anm. der Red.) ist ideal. Im Sommer ist es viel einfacher als im Winter, Steinböcke zu sehen. Im Winter verschwinden sie gerne in den Felsen. Es ist auch die Zeit, in der vor allem die Böcke grosse Wanderungen machen. Und somit von der Bildfläche verschwinden.

Worauf schaust du, wenn du Steinböcke fotografierst?
Ich schaue, dass ich zur richtigen Tageszeit losgehe. Am frühen Morgen, wenn das Licht stimmt und Ruhe in den Herden ist. Ich nähere mich einer Herde immer sehr langsam. Bei den Männchen kann man sich bis fünf Meter annähern, die Weibchen, die auch ihre Jungen schützen, sind viel scheuer. Manchmal warte ich auch an einem Ort, wo ich weiss, dass sie irgendwann vorbeikommen.

Welches Gebiet ist jemandem zu empfehlen, der auf Nummer sicher gehen will, um mit ein paar schönen Bildern nach Hause zu kommen?
Aufs Niederhorn fahren, dann dem Grat entlang bis Gemmenalp gehen und mit dem Fernrohr nach links und nach rechts schauen. Das sollte funktionieren. Neben dem Niederhorn sind auch die Gemmi und das Augstmatthorn, das sich ebenfalls im Niederhorngebiet befindet, ergiebige Steinbock-Gebiete.

Erblickt man sie auch in Adelboden so leicht?
Nicht ganz. Hier sind sie stärker in den Felsen, beispielsweise im Gebiet des Engstligengrates. Das Fernrohr sollte man dabei nicht vergessen.

Zur Person

Olivier Stähli (18) hat das Gymnasium in Thun mit dem Schwerpunktfach Biologie besucht. In seiner Freizeit ist er oft draussen in der Natur, um Wildtiere zu beobachten und zu fotografieren. Im Rahmen seiner Maturaarbeit beschäftigte er sich mit dem Fotografieren eines Eurasischen Luchses in den Alpen. Seine besten Werke und ein Blog über aktuelle Fototouren sind auf seiner Website www.wildlifeandnature.ch zu sehen.

«Neben der Zutraulichkeit gegenüber dem Menschen ist der Steinbock enorm friedlich.»

Sind die Tiere in gewissen Zeiten fotogener?
Ja, im Sommer, von August bis September. Da bekommen sie ein wunderschönes, glattes Sommerfell. Fotografisch attraktiv sind sie in dieser Zeit auch, weil dann die Böcke untereinander um die Rangordnung kämpfen. Sie sind voll im Saft, dann sieht man auch, wie stark sie sind. Ich fotografiere jedoch auch gerne Geissen mit ihren Jungen.

Die gehörnten Böcke sind besonders schön.
Ja, natürlich. Mich faszinieren die Hörner auch, schliesslich auch deshalb, weil sie viele Informationen transportieren. Anhand der von hinten betrachteten Rillen der Hörner lässt sich beispielsweise das Alter des Bockes bestimmen. Von vorne betrachtet, sind die Abstände kleiner. Hier steht ein kleiner Zwischenraum für ein hartes, schwieriges Jahr, grosse Abstände für ein gutes Jahr.

Am schönsten sind die Böcke in der Gruppe. Ein seltenes Bild?
Nein, Steinböcke sind keine Einzelgänger. Die Böcke leben auch nicht in gemischten Herden – nur der ranghöchste Bock mischt sich im Winter unter die Geissen. Die Weibchen bleiben ebenfalls unter sich, ihr Zusammenhalt ist stärker ausgeprägt als bei den Böcken. Die Herden der Böcke sind deutlich kleiner. Doch am Augstmatthorn erspähte ich vor einem Jahr 24 Böcke zusammen, die friedlich am Grasen waren. Das ist schon sehr aussergewöhnlich und war eines meiner schönsten Erlebnisse.

Vor gut 100 Jahren wäre ein solches Erlebnis nicht möglich gewesen.
Ja, denn sie waren zwischen 1809 und 1911 komplett ausgerottet. Dass die Tierart in der Schweiz wieder angesiedelt ist, verdanken wir einer spektakulären Aktion von Naturschützern Anfang des 20. Jahrhunderts.

Worin bestand diese Aktion?
1906 stahlen Schweizer Naturschützer im Tierpark Gran Paradiso im Aostatal Steinböcke und -geissen. Dies war das Jagdreservat von König Vittorio Emanuele II, der dort eine letzte verbliebene Steinbockkolonie, ungefähr 100 Tiere, pflegte. Die Schweizer schmuggelten die Tiere über die italienisch-schweizerische Grenze; dies nachdem sich Italien nach mehrmaligen Anfragen geweigert hatte, Steinböcke und -geissen an die Schweiz zu verkaufen.

Wie ging es weiter?
Die gestohlenen Steinböcke kamen in den Wildpark Peter und Paul im Kanton St. Gallen und wurden 1911 im Weisstannental, ebenfalls im Kanton St. Gallen, wieder ausgesetzt. Bis 1977 standen Steinböcke unter Schutz, seither dürfen sie wieder gejagt werden, da die Bestände zu gross wurden.

Warum kam es denn überhaupt soweit?
1809 wurde in der Schweiz der letzte Steinbock erlegt. Der Grund für die Ausrottung war ein Mythos. Man glaubte, dass die Hörner und ein Knorpel beim Herz, das Herzkreuz, Krankheiten heilen und einen unverwundbar machen können – ähnlich wie heute bei den in Afrika gejagten Nashörnern. Der Steinbock galt schon damals als König der Alpen. Seine Zutraulichkeit gegenüber dem Menschen wurde ihm zum Verhängnis. Die Jäger konnten sich bis 10 Meter annähern und so mühelos auf ihn zielen.

«Der Steinbock-Diebstahl von 1906 gilt als eine der spektakulärsten Rettungen einer Tierart.»

Wie hoch ist der Bestand heute?
Er pendelt zwischen 15000 und 17000 Tieren. Die Schweiz ist das Land mit dem höchsten Bestand. Das verdanken wir dem Diebstahl von 1906. Er gilt als einer der spektakulärsten Rettungen einer Tierart.

Ist der Bestand stabil?
Ja. Jährlich wächst die Zahl aufgrund der Geburten um 15%. Korrigierend wirken die 10%, die gejagt werden. Mit den natürlichen Winterverlusten, d.h. Tod in Lawinen und durch Verhungern, pendelt sich der Bestand ein.

Die Bündner setzen den Steinbock in ihrer Werbung als Wahrzeichen ein. Damit kann der Eindruck entstehen, dass es nirgends so viele Steinböcke gibt wie im Bündnerland.
Ein richtiger Eindruck. In Graubünden gibt es fast 7000 Tiere, im Wallis 5000 und im Kanton Bern lediglich 1000. Die gleiche Zahl gilt für die Kantone Tessin und St. Gallen.

Stört dich die touristische Vermarktung des Steinbockes?
Nein. Was mich hingegen stört, ist die Jagdsituation im Wallis. Dort werden die Böcke für ungefähr 10000 Franken an reiche Ausländer verkauft. Das geht so: Dem Käufer wird das Gewehr hochgetragen und in Position gebracht. Dann darf er abdrücken. Selbstverständlich wird ihm dann die Trophäe nach Hause getragen. In den Kantonen Bern und Graubünden ist die Handhabung viel strenger. Um ein Tier schiessen zu dürfen, muss man einige Jahre Jäger sein und kommt dann in eine Auslosung.

Der Steinbock ist ohne Zweifel ein erhabenes Tier. Hat er denn auch ein paar Marotten?
Nein. Neben der Zutraulichkeit gegenüber dem Menschen ist er enorm friedlich. In der Paarungszeit gehen die Böcke zwar ziemlich aufeinander los. Doch im Unterschied zu den Rothirschen und Gämsen gibt es bei diesen Kämpfen nie Tote. Im August und Dezember kämpfen sie ziemlich hart, durchs Jahr hindurch leben sie friedlich miteinander.