Kindheitserinnerungen

Kindheitserinnerungen

12. Oktober 2022 – Tomas Niederberghaus

Wenn der Geruch verführt und der Geschmack betört. Unsere Köche kreieren in der Sommer- und kommenden Wintersaison jeden Montag ein Menü mit den Lieblingsspeisen aus der Kindheit unserer Gäste.

DER GESCHMACK DER KINDHEIT

Jeden Samstag das gleiche Desaster. Es gab Milchreis. Und ich bekam ihn nicht runter. Stopfte ihn unter den Augen der ganzen Familie (drei Generationen!) in meinen Mund, die Backe wurde dicker und dicker, aber er wollte einfach nicht durch meinen zarten Kinderhals. Und musste es doch. Denn was auf den Tisch kam, wurde gegessen.Das muss man sich mal vorstellen: Dieser dicke körnige Reis in meiner rechten Backe, die inzwischen wie ein Luftballon angeschwollen war, und um mich herum vier Erwachsene und meine Geschwister, die mich alle mit unruhigem und erwartungsvollem Blick ansahen.

Wie bei Proust – So ist das mit den kulinarischen Kindheitserinnerungen. Oder anders gesagt: So kann es sein.Denn in der Regel sind sie herrlich positiv besetzt. Denn das gab es natürlich auch: Von der Schule zurückkommen und in der Küche duftete es bereits nach Aprikosenkuchen. Oder nach Erdbeeren. Oder es gab, ja, Wackelpudding in Waldmeistergrün oder Himbeerrot, der im Mund stets Schabernack trieb. Der Geschmack der Kindheit, das ist ein Gefühl von Heimat und oft auch der Liebe zur Grossmutter. Wer heute seinen Essensstil sucht oder zu definieren versucht, steht wie vor einem Puzzle, bei dem er seine Kindheit wieder zusammensetzt.

Niemand anderes hat das kulinarische Geschmacksgedächtnis so schön und treffend beschrieben wie Marcel Proust in seinem Klassiker «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit». In seiner Madeleine-Episode heisst es: «Geruch und Geschmack werden noch lange wie irrende Seelen ihr Leben weiterführen, sich erinnern, warten, hoffen, auf den Trümmern alles Übrigen und in einem beinahe unwirklich winzigen Tröpfchen das unermessliche Gebäude der Erinnerung unfehlbar in sich tragen.»

 

Die Forelle meunière liebt man vor allem in der Romandie. Bild: StockFood
Die Forelle meunière liebt man vor allem in der Romandie. Bild: StockFood

Spiegel der Schweiz – Das Thema der kulinarischen Kindheitserinnerungen fasziniert uns im «Bellevue» schon eine Weile. So haben wir unsere Gäste diesen Winter nach ihren
Lieblingsspeisen aus Kindheitstagen gefragt, um diese in der Sommer- und kommenden Wintersaison jeden Montag zuzubereiten – in Form des 4-gängigen Tagesmenüs. Spannende Geschichten wussten die Gäste, mit denen wir sprachen, zu erzählen, und feine Gerichte wurden genannt, die letztlich ein Spiegel der Schweiz sind. Da schwärmten die Romands von Papet vaudoise, von Perches meunière und von der Käsespezialität Malakoff, während sich die Deutschschweizer an die feinen Rahmschnitzeli mit Nüdeli, ans Züri Gschnätzlete, an die Pastetli mit Kalbskügeli und an den Kirschenauflauf ihrer Kindheit erinnerten.

Den Röstigraben scheint es mindestens bei der Rösti nicht zu geben. Denn das knusprige Kartoffelgericht liebt man auf beiden Seiten der Sprachgrenze heiss. Schön auch der Tessiner und italienische Einfluss – mit Ossobucco, Coniglio e polenta und Piccata milanese. Dass die Geschmackswelt bei Jung und Alt auseinanderfällt, liegt auf der Hand. Die orientalische und asiatische Küche ist nur bei jüngeren Gästen im Bewusstsein.

Saisonal und regional – «Lieblingsgerichte sind mit Emotionen und Erinnerungen aufgeladen», sagt Küchenchef Jürgen Willig und fügt hinzu: «Der Geschmack der Kindheit erinnert auch an eine Zeit, in der niemand von Lebensmittelunverträglichkeiten oder Allergien sprach.» Produkte seien frisch, naturbelassen und nachhaltig und die Küche immer saisonal gewesen. Erdbeeren im Winter – ein Unding! Neuseeländer Lämmer – undenkbar! Jürgen Willig sagt: «Da bestimmte Produkte nur zu bestimmten Zeiten erhältlich waren, war auch die Lust und der Hunger auf sie gross.»

 

Dass die Liste der beliebtesten Desserts lang ist, erstaunt nicht wirklich. Heissbegehrte Desserts sind oft mit Erdbeeren, Kirschen, Aprikosen und Äpfeln. Bild: StockFood
Dass die Liste der beliebtesten Desserts lang ist, erstaunt nicht wirklich. Heissbegehrte Desserts sind oft mit Erdbeeren, Kirschen, Aprikosen und Äpfeln. Bild: StockFood

In der Küche duftete es nach Erdbeeren.

Happy End mit Milchreis – Viele der Gerichte sind zu Klassikern geworden – und entfalten aus dem Einfachen das Besondere. Eine Brücke zur Kindheit. Denn mit dem Oralen beginnt die Erschliessung der Welt. Es muss ja nicht immer Milchreis sein. Aber das Problem liess sich auf einfache Weise lösen: Irgendwann kamen samstags Tante Hedwig und Onkel Hermann vorbei und sassen mit uns an der langen Tafel. Wieder einmal waren alle Augen auf meine mit Milchreis gefüllte Backe gerichtet. Und dann kam mir die erlösende Idee: Ich hielt so lange die Luft an, bis ich rot und blau anlief, ich liess mich vom Stuhl zu Boden sinken und simulierte Ohnmacht. Zum grossen Schrecken aller. Tante Hedwig schrie sogar einen Sorgenschrei aus. Meine Mutter hat mich natürlich entlarvt. Aber die kleine schauspielerische Einlage hat ihr derart gefallen, dass ich fortan nie wieder Milchreis essen
musste!

Rindsschmorbraten mit Kartoffelpüree und Gemüse.
Rindsschmorbraten mit Kartoffelpüree und Gemüse.

Lieblingsgerichte unserer Gäste

Einen Winter lang haben wir unsere Gäste nach ihren Lieblingsgerichten aus der Kindheit und Jugend gefragt, um diese nun jeden Montag zuzubereiten – in Form des 4-gängigen Tagesmenü. Nachfolgend die Liste der meistgenannten Gerichte – nach Häufigkeit:

Hauptgänge

  • Wiener Schnitzel mit Pommes frites
  • Rahmschnitzel mit Nudeln
  • Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti
  • Spätzli mit Zwiebeln und Käse überbacken
  • Pilzschnitte
  • Lasagne
  • Kalbsleberli mit Kräutern
  • Scaloppini di vitello alla limone
  • Gebratene Eglifilets mit Salzkartoffeln
  • Pastetli mit Bratkügeli
  • In Schinken eingerollte Endivien,mit Rahm und Käse überbacken
  • Rindsschmorbraten mit Kartoffelpüree
  • Ossobuco Gremolata mit Risotto
  • Zunge mit Kapernsauce und Kartoffelstock
  • Siedfleisch und Tafelspitz
  • Saucisson vaudoise mit Lauch
  • Piccata Milanese mit Spaghetti
  • Gebratene Forelle meunière
  • Malakoff-Käsekrapfen
  • Crevettencocktail
  • Hechtklösschen
  • Coniglio e polenta
  • Papet vaudoise
  • Berner Platte

Und die Süssspeisen

  • Waffeln mit Vanilleeis
  • Schwarzwäldertorte
  • Erdbeertörtchen
  • Süssmostcreme
  • Fotzelschnitte
  • Coupe Dänemark
  • Cremeschnitte
  • Kirschenauflauf
  • Götterspeise mit Erdbeeren
  • Apfelküchlein mit Vanillesauce
  • Gebrannte Creme
  • Aprikosenkuchen
  • Kaiserschmarren
  • Meringue mit Vermicelle, Eis und Rahm
  • Apfel im Schlafrock
  • Tarte Tatin
  • Aprikosenjalousie